Cover
Titel
Toni Turek – „Fußballgott“. Eine Biographie


Autor(en)
Raupp, Werner
Erschienen
Hildesheim 2019: Arete Verlag
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Eggers, Verlag Eriks Buchregal, Kellinghusen

Kein sportliches Ereignis wurde in Deutschland so intensiv literarisch verarbeitet wie das „Wunder von Bern“, der sensationelle 3:2-Sieg der Herberger-Elf gegen Ungarn im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft 1954. In den 1950er- und 1960er-Jahren erschien eine ganze Reihe von Büchern, allein der populäre Kapitän Fritz Walter publizierte (mithilfe von Ghostwritern) mindestens sechs Monografien. Die grandiose Herberger-Biografie des SPIEGEL-Redakteurs Jürgen Leinemann, der als Erster den Nachlass des damaligen Bundestrainers auswertete, um anlässlich von dessen 100. Geburtstag die Lebensleistung des „Weisen von Weinheim“ zu würdigen, zählt bis heute zu den Preziosen deutscher Fußball-Literatur.1 Eine schier unübersichtliche Fülle neuer Veröffentlichungen erschien im Jahr 2004, als sich der erste deutsche WM-Titel zum 50. Mal jährte.2

Abgesehen von der großen Figur Herberger, wurden zunächst nur die Stürmer der Berner Elf in Biografien verewigt. Es gibt Lebensbeschreibungen über Hans Schäfer, der in Bern nach innen geflankt hatte, Max Morlock, Fritz Walter und Helmut Rahn, der bekanntlich aus dem Hintergrund schoss. Im Jahr 2004 kam eine Autobiografie des Läufers Horst Eckel auf den Markt. Erstaunlich jedenfalls, dass dem Mann, der im mythenumrankten Finale von Radioreporter Herbert Zimmermann zum „Fußballgott“ ausgerufen wurde, erst jetzt eine Biografie gewidmet wird: Toni Turek.

Anlass dafür ist der runde Geburtstag der Torwartlegende: Anton Turek wurde am 18. Januar 1919 als jüngster Spross einer katholisch geprägten Arbeiterfamilie in dem Duisburger Vorort Wanheimerort geboren. Autor Gerhard Raupp, der in Hohenstein das Toni-Turek-Archiv betreibt, wählt einen klassischen, chronologischen Aufbau, der sich gliedert in „Die frühen Jahre (1919-1945)“, „Die Mitte des Lebens (1945-1973)“, „Die späten Jahre (1973-1984)“ und „Der Nachruhm“. Im Anhang finden sich die Stammtafel der Tureks, die Vorfahren in Polen und Ungarn besaßen, sowie Verzeichnisse seiner Spiele und Ehrungen.

Raupp überblickt die Literatur zum Fußball. Doch schon aus dem ersten Abschnitt wird deutlich, wie dünn die Quellenlage im Falle Tureks ist. Persönliche Aufzeichnungen des Torwarts existieren nicht, so dass Tureks Jugend nur bruchstückhaft zu rekonstruieren ist. Raupp stützt sich hier vornehmlich auf Aussagen der Tochter Tureks (Tureks Sohn stand nicht zur Verfügung). Eine Bäckerlehre, die Turek im Alter von 14 Jahren begann, schloss er 1937 ab. Sepp Herberger, seinerzeit Assistent von Dr. Otto Nerz, soll Turek das erste Mal am 27. September 1936 in sein legendäres Notizbuch geschrieben haben, als der Nachwuchstorwart in einem Vorspiel eines Länderspiels in Krefeld auflief. (S. 22f.)

Einen Leistungssprung vollzog der Keeper, als er 1938 vom DSC 1900 zum Duisburger Lokalrivalen TuS 48/99 wechselte, wo teils „Teddy“ Lohrmann trainierte, einer der besten Keeper der 1920er-Jahre. Wie im Falle der Gebrüder Fritz und Ottmar Walter bremste jedoch der Zweite Weltkrieg die Karriere des hoffnungsvollen Torwarts: Er wurde als Soldat in Polen, Frankreich und Russland eingesetzt, unter anderem als Kradmelder. Am 5. November 1941 durchschlug ein Granatsplitter seinen Helm; dieser konnte aus seinem Hinterkopf operativ nicht entfernt werden. „Dies machte ihm in den Folgejahren immer wieder zu schaffen, auch während mancher Fußballspiele.“ (S. 28)

Trotz des Kriegs kam Turek zu Einsätzen in Fußballmannschaften. Für das letzte Länderspiel während des Zweiten Weltkriegs am 22. November 1942 in Preßburg wurde er von Herberger in den Kader berufen (spielte aber nicht). Im Mai 1944 kämpfte Turek als Soldat die dritte Schlacht am Monte Cassino, bevor er in amerikanische Gefangenschaft geriet. Das Kriegsende überlebte er im Rheinwiesenlager in Rheinberg (Niederrhein) wohl auch deshalb, weil seine Frau Wilhelmine, die er im Januar 1943 geheiratet hatte, und Schwester Franziska ihn über den Zaun hinweg mit Butterbroten versorgten.

„Die besten Jahre hat mir der Krieg geraubt“, bilanzierte Turek (S. 42). Seine Paraden verschafften ihm nach 1945 indes die Möglichkeit der „Kalorienspiele“, in denen sich populäre Fußballer für ihre Auftritte mit Nahrungsmitteln vergüten ließen. Turek schloss sich zunächst wieder dem TuS 48/99 Duisburg an, wechselte am 1. Dezember 1946 zu Eintracht Frankfurt. Darauf folgten drei Jahre bei der TSG Ulm 1846, wo er bereits während des Krieges gespielt hatte. Im Sommer 1950 ging es zurück in die Heimat, als er bei Fortuna Düsseldorf anheuerte – der Verein lockte den Torwart unter anderem mit einer Anstellung bei der Rheinischen Bahngesellschaft AG, der er bis zu seiner Verrentung treu blieb. Am 22. November 1950 in Stuttgart gegen die Schweiz (1:0) feierte Turek im Alter von bereits 31 Jahren seine Länderspielpremiere, er kam insgesamt auf 20 Länderspiele.

Die Stationen von Turek als Fußballer bis zu diesem Zeitpunkt beschreibt Raupp, da ihm andere Quellen nicht zur Verfügung stehen, mithilfe von Berichten in der Sportpresse. Damit bewegt er sich zwangsläufig an der Oberfläche. Naheliegende Fragen, wie Turek beispielsweise den Krieg verarbeitete, kann das Buch nicht beantworten. Auch die folgenden Jahre bis zum Berner WM-Titel beschränken sich auf die Auflistung sportlicher Höhepunkte. Als Turek beim Länderspiel am 17. Juni 1951 in Berlin gegen die Türkei (1:2) einige Fehler unterliefen, verfestigte das sein Image als lässiger Keeper, der zur Leichtsinnigkeit neigte.

Als die Herberger-Elf in die Schweiz fuhr, war Turek der populärste deutsche Torhüter, wie Umfragen belegten, zugleich war er mit 35 Jahren der Senior im ältesten Team bei der 5. FIFA-WM. Raupp rezipiert die These Leinemanns, wonach eigentlich Fritz Herkenrath Herbergers Favorit gewesen sei, dieser aber wegen einer Amerika-Reise von Rot-Weiß Essen nicht abkömmlich war. Dem widerspricht, dass auch Rahn den ersten Teil dieser Reise bestritten hatte. Wahrscheinlicher ist, dass Herberger Turek aufgrund seiner stoischen Ruhe und großen Erfahrung bevorzugte (S. 102).

Turek rechtfertigte das Vertrauen des Bundestrainers weitgehend. Allein im zweiten Spiel gegen die Türkei (7:2) zog er sich den Zorn Herbergers zu, nachdem er mit Showeinlagen das zweite Gegentor verschuldet hatte. Tureks Reaktion war eine brillante Leistung im Viertelfinale gegen Jugoslawien (2:0), auch im Halbfinale gegen Österreich (6:1) überzeugte er. Berühmtheit aber erlangte er durch jene Szene im Finale gegen Ungarn, als er kurz nach dem 2:2-Ausgleich Rahns einen Volleyschuss Hidegkutis aus kürzester Distanz mit einem Reflex abwehrte. „Schuss! Abwehr von Turek! Turek, Du bist ein Teufelskerl! Turek, Du bist ein Fußballgott!“, kommentierte Radioreporter Herbert Zimmermann brüllend diese Sensationsparade. Auch in den Schlussminuten rettete Turek mit spektakulären Paraden den Vorsprung der Walter-Elf, weshalb er zweifellos zu den Hauptfiguren des „Wunders von Bern“ zählt. Nach dem frühen 0:2-Rückstand habe sein Team eine Trotzreaktion gezeigt, berichtete Turek 1955 dem Sportmagazin. „‘Jetzt gerade‘, sagten wir uns, ‚das können wir dem Sepp nicht antun, vor dem Ziel zu straucheln!‘, [und] erschreckten fast vor der Kühnheit des Gedankens.“ (S. 114)

Raupp referiert die anschließenden Feierlichkeiten und Prämien – Turek bekam zusätzlich zu den DFB-Prämien eine DKW-Limousine mit Schiebedach vom örtlichen Autohersteller geschenkt. Die Fortuna überreichte ihm einen Scheck in Höhe von 2.000 Mark, der jedoch platzte. Raupp diskutiert auch den Begriff des Fußballgotts, den zuvor schon Keeper wie Ricardo Zamora erhalten hatten, die „Doping-Affäre“ und den Nachruhm Tureks, der sich beispielsweise dadurch äußerte, dass der Tipp-Kick-Hersteller Mieg einen Torwart namens „Toni“ auf den Markt brachte (S. 117–124).

Als Spieler profitierte Turek indes nicht lange von seinem Nachruhm. Er bestritt nach dem WM-Finale nur noch ein Länderspiel. Im Sommer 1955 verlor er seinen Stammplatz bei Fortuna Düsseldorf, in der Saison 1956/57 ließ er seine Karriere bei Borussia Mönchengladbach ausklingen. Er war 1957 der erste 54er-Weltmeister, der seine Fußballschuhe auszog. Das Schicksal habe sich gegen ihn gewandt, klagte er nach seinem Rücktritt, „das Pech wurde mir so treu wie zuvor das Glück im Tor.“ (S. 138)

Nach der aktiven Karriere betätigte sich Turek zeitweise als Trainer. 1973 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand drastisch, so dass er sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Zwar erholte sich Turek zwischenzeitlich wieder, aber als ihn ein Herzinfarkt und ein Schlaganfall kurz vor seinem Tod am 11. Mai 1984 ans Bett fesselten, klagte er: „Viel Glück habe ich ihm Leben nicht gehabt.“ (S. 168) Die Depressionen, unter denen er litt, verbanden ihn mit den Kollegen Ottmar Walter, Werner Kohlmeyer und Helmut Rahn, die mit der Wucht des Nachruhms von 1954 ebenfalls zu kämpfen hatten. Insofern gilt auch im Falle des Torwarts das eindrückliche Wort Leinemanns, wonach die Helden von Bern im Wortsinn „vom Glück geschlagen“ worden waren.

An die rhetorische Brillanz und intellektuelle Tiefe der Herberger-Biografie Leinemanns reicht die Würdigung des „Fußballgotts“ nicht heran, dafür fehlt es Raupp an der sprachlichen Eleganz wie an den Quellen. Da Raupp die bisher nur bruchstückhaft vorliegenden Informationen über Turek zusammenfügt, ist dieses Buch aber allemal verdienstvoll und sehr nützlich für den Fußballhistoriker.

Anmerkungen:
1 Jürgen Leinemann, Sepp Herbeger. Ein Leben, eine Legende, Reinbek 1997.
2 Vgl. den Überblick bei Stefan Jordan, Der deutsche Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft. Mythos und Wunder oder historisches Ereignis?, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 30/4 (2005), S. 263–287.

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